Berta

 

Da stand er nun wie ein Häufchen Elend vor der Haustüre des Nachbarn,  und ließ die Ohren hängen. Wer ihn so stehen sah, konnte kaum glauben, dass Max mit seinen acht Jahren eigentlich schon fast alles wusste und mit allen Wassern gewaschen war. Als Vollwaise, bei den Großeltern auf dem Land aufwachsend, hatte er früh gelernt selbstständig zu sein; zu selbstständig wie die Großmutter manchmal seufzend bemerkte. Dem Großvater war dies einerlei, er hatte seine helle Freude an dem aufgeweckten Bürschchen, der kaum der täglichen Schule entronnen und die mittägliche Suppe hinuntergeschlungen, Wälder und Fluren unsicher machte. Das Wetter spielte dabei keine große Rolle. Auch blieb schon ein ums andere mal die Hausaufgabe auf der Strecke. „Der Bub holt des schon noch nach“ meinte der Großvater dann lapidar und hatte damit bei Max einen besonderen Pluspunkt. Dieser wurde um etliches wertvoller, als der rüstige Rentner eines Tages sein altes Fahrrad aus dem Schuppen kramte, es wieder zum Leben erweckte und  seinem wissbegierigen Enkel vermachte. Fortan wurden Maxens Streifzüge nur noch auf dem Drahtesel vollzogen und die Strassen im und um das heimatliche Dorf waren um eine Gefahrenquelle reicher.

Und nun stand er vor des Nachbarn Haustür um Abbitte zu leisten. Krampfhaft hielt er den alten Jutesack in der Hand in dessen Schoss das  „Corpus delikti „ schlummerte: ein Huhn. Nicht irgendein Huhn, nein, es war das Lieblingshuhn des Nachbarn, die Berta, die unter Maxens Vorderrad ihr jähes Ende genommen hatte.

Es wäre ihm auch leichter um`s Herz gewesen, wenn es nicht ausgerechnet der Nachbar wäre, mit dem er in der Vergangenheit so manchen Strauss ausgefochten hatte. Dabei fiel ihm die Fensterscheibe ein, die beim Ballspiel zu Bruch ging, die „gestohlenen“ Kirschen die ihm jedes Jahr auf`s Neue entgegen lachten und .. und ..und ; die Liste der „Schandtaten“ war lang. Und nun Berta ...

Mit fiebrigen Augen suchte er den Klingelknopf und legte zitternd den Finger darauf. Der Knopf war kalt und abweisend. Schon wollte er ihn wieder zurücknehmen, da hörte er die Stimme der Großmutter laut und deutlich in seinem Inneren : „ Du hast dir die Suppn einbrockt, jetzt löffel sie auch aus !“

Max atmete tief durch und drückte kräftig zu. Irgendwo ertönte eine scheppernde Glocke und nach einer kurzen Pause hörte man schlurfende Schritte die sich gefährlich der Haustüre näherten. Jetzt verließ ihn doch ein wenig der Mut und er presste die Augenlider  fest zusammen. Er sah nicht wie sich die Türklinke nach unten bewegte und hörte nur die Türe in den Angeln quietschen, dann war es still, entsetzlich still.

Langsam öffnete Max die Augen und blickte in ein von den Jahren gezeichnetes Gesicht das ihn mürrisch ansah.

„ Ich möcht ..., ich will nur ... ich hab ...“ Er versuchte krampfhaft den Umstand seines Hierseins zu erklären, aber der Frosch der ihm im Hals steckte verhinderte jegliche Erklärung. Außerdem bemerkte er mit Schrecken, dass sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen bildeten, die sich zu kleinen Bächen vereinten und im Hemdkragen versickerten. Vor seinen Augen begann sich die Welt langsam zu drehen und von weiten hörte er die Stimme des Nachbarn : „ Brauchst nix mehr sag`n. Ich weiß schon. Is da drin ?“

Max nickte stumm in Erwartung des folgenden Donnerwetters. Der alte Mann sah ihn überlegend an : „ Was soll i bloß mit dir toa ? - Aber  es hätt ja eh koan Sinn. Jetzt gehst heim, und lasst dir von deiner Oma a Suppn von ihr kochen. Dann hab i`s net umsonst gfüttert.“ Mit einem resignierenden Seufzer drehte er sich um und schloss die Türe vor Max. Dieser wollte noch ein „Danke“ hinterherschicken, aber es blieb  beim Wollen.  Die Schritte des Nachbarn verloren sich. Pfeifend ließ Max die Luft ab, die sich in seinem Inneren angestaut hatte und trollte sich   erleichtert nach Hause um der  Großmutter zu berichten.

Diese konnte es fast nicht glauben, machte sich aber dennoch ans Werk und schon bald duftete es so verführerisch aus der Küche, dass  Max und seinen Großvater, die sich sonst lange zu Tisch bitten ließen, bereits in Erwartung des Festschmauses  dort Platz genommen hatten. Aber die Überraschung war groß, denn die Großmutter drückte Max einen eingewickelten  Tiegel in die Hände mit der Order denselben beim Nachbarn mit einem schönen Gruß abzugeben. „ Schließlich is des sei Henn, und du hast es tot gfahrn“! Und mit einem gerechten Blick in die hungrigen Augen fügte sie hinzu : „ Strafe muss sei!“ Dem Protest des Großvaters, er hätte doch mit der Sache nichts zu tun, erteilte sie mit dem Hinweis „ Von dir hat er des Radl !“ eine kurze und prägnante Abfuhr.

So stand Max am selben Tag wiederum vor der Haustüre des Nachbarn und drückte erneut auf den Klingelknopf. Dieses Mal ein bisschen schneller, die Henkel des Topfes wurden bedenklich heiß. Es ließen sich wieder die schlurfenden Schritte vernehmen, die Türe öffnete sich und das gramgezeichnete Gesicht blickte ihn erneut an, diesmal fragend.

Max nahm seinen ganzen Mut zusammen und stammelte sein Sprüchlein, dass er sich beim Herweg zusammengereimt hatte fast fehlerfrei herunter: „ Einen schönen Gruß von meiner Oma und ich soll ihnen die ... ihr Henna bringa, damit`s amal was Gscheits im Magn ham, hat Oma gsagt!“ So, jetzt war es heraus und Max hörte den Stein fallen, der ihm auf dem Herzen lag.

„So so, hat die Oma gsagt.“ Der Nachbar lupfte den Deckel des Topfes und hielt seine Nase prüfend über die Überreste seines Lieblingshuhnes. Dann sah er Max prüfend an : „ Hast scho g`essen ?“

Max spürte langsam wieder den Frosch. „ Ja .. na ..ich hab koan Appetit !“ Das Gesicht seines Gegenübers wurde jetzt fast mitleidig. „ So so, koan Appetit hast ?“ Dann kumm wenigstens mit und leist mir Gesellschaft. „

Bereits einige Augenblicke später saß Max mit seinem Kontrahenten an dessen Tisch, hatte einen vollen Teller vor sich und beide nagten an den Hühnerbeinen, als hätten sie vorher noch nie etwas Köstlicheres gegessen. Nach einer halben Stunde erinnerte nur noch ein kleines Häuflein Knochen an Berta.

Der alte Mann lehnte sich zufrieden zurück. „ Also, eins muss ma sag`n. Kochen kann dei Oma“. Und nach einer kleinen Weile der Andacht fügte er schelmisch grinsend hinzu: „ Und wenn du wieder amal Lust auf Hühnerbraten hast, dann fahr ganz schnell an meim Hof vorbei. Ich treib dir scho eine naus !“ Fröhlich lachend ließen beide so den Abend ausklingen, und Max war sehr froh. Er hatte einen neuen, alten Freund gefunden.